Gehirnüberfunktion? Nanu? Was ist das denn? Eine Schilddrüsenunterfunktion, ja das kenne ich, das hab ich auch. Aber das gibt es auch beim Gehirn? 🙂

Nun, ich will es mal erklären. Unlängst stieß ich auf einen Artikel über Henry Makram, den renommierten Gehirnforscher, der (Asperger)-Autismus als „Intense-World-Syndrom“ bezeichnet, bei dem es nicht um einen Mangel, sondern um ein „Zu Viel“ geht. Denn bisher sprach man häufig davon, dass es Autisten und Aspies vermutlich an Emotionen, Empathie und sozialem Verständnis aufgrund von psychischen Defiziten mangelt.  

Makram aber erklärt das alles nun ganz anders.

Asperger bedeutet ein Bombardement aus Sinneseindrücken: „Autos dröhnen in den Ohren wie Flugzeuge. Lampen blenden grell wie Scheinwerfer. Wassertropfen aus der Dusche schmerzen wie Nadelstiche.“  Lange galten Autisten als besonders gefühlsarme Menschen. Möglicherweise ist jedoch das Gegenteil der Fall. Das Leben in innerer Zurückgezogenheit könnte auch ein Schutzmechanismus vor Überforderung sein. Die sozialen Schwierigkeiten von Autisten sind eine Folge von Überforderung und nicht von neuronalen Defekten. Die Hyperaktivität der Hirnfelder für Wahrnehmung, Emotionen und Gedächtnis könnten auch die besonderen Fähigkeiten, Talente und die Hochsensibilität von Autisten erklären. Henry Markram betont: Seine Daten belegen, dass Menschen mit stark ausgeprägten Formen des Autismus eigentlich am begabtesten seien. Das bessere Verständnis von Asperger-Autismus, Hochsensibilität oder einer übersteigerten Sensibilität kann betroffenen Familien helfen, die Herausforderung mit ihren Kindern zu meistern.

Auch für mich ist es eine rumdum logische (sic!) Erkärung: Man hat keine Reizfilter, die Welt ist daher aber extrem  laut, grell… Weiß man nichts von diesen fehlenden Reizfiltern, sorgt dementsprechend nicht für besonders viel Ruhe und Ausgleich, dann erzeugt das Stress, das verursacht Vermeidungsverhalten, eine gewisse Abscheu gegenüber allem, wobei dieser Stress entstehen könnte, und wirft die Frage auf: „Bin ich nur eine Mimose oder ist die Welt tatsächlich so schrill?“ Das kann Menschen verunsichern und dazu führen, dass sie sich selbst anklagen oder auch von anderen für ihre Hypersensitivität (unwirsche) Kritik erfahren. Wer die Welt so anders erlebt, kann das Erlebte auch nicht so leicht mit anderen teilen. Es ist seltsam, es verunsichert, wenn man auf ein „Kennst Du das eigentlich auch, wenn…“ meistens ein „Nee, geht mir überhaupt nicht so“ als Antwort bekommt.

Was ist die Folge? Diese Menschen ziehen sich zurück und auch das kann wiederum zu Missverständnissen führen. „Warum machst Du nicht mit? Was hast Du gegen uns?“ 

Depressionen können die Folge dieses audiovisuellen und sozialen Stresses sein, der ja auch darin besteht anderen immer wieder erklären zu müssen, warum man Dinge anders sieht/erlebt und andere Konsequenzen aus dem Erlebten zieht. Das führt zu unterschiedlichen Bewertungen von Eindrücken und zu anderen Emotionen. Gemeinsamkeiten zu finden, das wird immer schwerer.

Erholung hingegen erlebt man beim häufig nahezu obsessiven Befassen mit wenigen Spezialthemen: Da kann sich das Gehirn wunderbar auf EINE Sache konzentrieren und sich von diesem Viel-zu-viel an zahllosen Eindrücken erholen. Rituale helfen dabei auch, Klarheit und Sicherheit in eine Welt zu bringen, die man selbst als chaotisch und verwirrend erlebt.

Das erklärt auch, warum Asperger, sprich diese „Reizfilter-Variante“, gar keine wirkliche Erkrankung ist und nur eine „sekundäre“ Behinderung. Man wird behindert und leidet nur, wenn man nicht für Ruhe, Ausgleich, Schutz und einen sehr bewussten Umgang mit diesem Phänomen sorgt. 

Der Vorteil dieser „Gehirnüberfunktion“? Ja, den sehe ich auch. 

Manchmal sieht/erkennt/hört man Dinge, Muster, die andere eher übersehen. Diese übersehenen Informationen stehen Menschen mit Standard-Reizfiltern, im Gegensatz zu Autisten,  nicht zur Verfügung. Der Autist könnte diese fehlenden Informationen mit Ihnen teilen, alle könnten davon profitieren. Einige findige Unternehmer haben das inzwischen erkannt und nutzen dieses Potential, das heute sogar von der Wirtschaft anerkannt wird. 2013 gab das Softwareunternehmen SAP aus Deutschland bekannt, es wolle 650 Autisten einstellen. 

Aber offenbar sind an anderer Stelle neuartige Informationen, Beobachtungen und Muster nicht immer nur willkommen, denn sie stören häufig auch das Selbstverständnis eigener Denkmuster. Hier können Streit, Stress, Missverständnisse entstehen, die gar nicht sein müssten:

Während Autisten den einen Aspekt des Großen und Ganzen wahrnehmen, nehmen Nicht-Autisten einen anderen Aspekt dessen war. Das Beste wäre es beide Aspekte ernst zu nehmen und gemeinsam zu nutzen, um gemeinsam zu wachsen, zu lernen, sich zu erneuern und als Menschheit von diesen Ressourcen zu profitieren.

Offenbar erntet Makram dafür auch von anderen „Experten“ jede Menge Kritik, ich persönlich hingegen habe noch kaum Aspies getroffen, die nicht erleichtert zustimmten, wenn sie Makrams Thesen hörten: „Endlich mal einer, der es kapiert hat!“

Der Bayrische Rundfunk fasst es so zusammen:

Henry Markram geht seit rund zehn Jahren von einer Überfunktion im Gehirn der Betroffenen aus. Er stellte fest, dass ihre Gehirnzellen deutlich aktiver sind als die von Nicht-Autisten und doppelt so viele Verbindungen zu anderen Zellen haben. Er schlussfolgert, dass Autisten deshalb viel stärker auf Reize reagieren. Autisten hätten deshalb intensivere Wahrnehmungsfähigkeiten, die Welt sei für sie schneller, lauter und bunter. „Intense World Syndrom“ nennt Hirnforscher Markram seine Theorie – die Theorie einer intensiv wahrgenommen Welt, auf die Autisten mit Rückzug reagieren. Seiner Meinung nach lernt das autistische Gehirn schneller und vergisst schlechter. Um sich vor der Reizüberflutung zu schützen, würden sich viele Autisten in ihre eigene Welt, mit ihren eigenen Ritualen, flüchten.

Es ist, als ob all deine Sinne verstärkt würden. Um den Faktor eins, zwei, drei oder vielleicht sogar zehn. Je nachdem, wie stark der Autismus ist.“ Hirnforscher Henry Markram, École Polytechnique Fédérale de Lausanne, Schweiz

Autisten haben keinen Mangel, sondern ein Zuviel

Das erklärt, warum Betroffene einen Ton unter Umständen zehnmal so laut, ein Licht zehnmal so hell und Wassertropfen beim Duschen als stechende Nadeln wahrnehmen. Dass autistische Kinder oft soziale und sprachliche Probleme haben, führt Markram darauf zurück, dass wichtige Impulse im Chaos der Reize untergehen. Markram empfiehlt, früh gegenzusteuern, intensive Reize in der Umgebung und Überraschungen zu vermeiden. „Für ein autistisches Kind kann jede Form von Überraschung traumatisch sein“, meint Henry Markram. Das hänge damit zusammen, dass Autisten nichts vergessen – beim Ski- und Snowboardfahren zum Beispiel nicht die schmerzenden Stiefel, die Stürze und die frierenden Hände. Sport im Schnee, vielleicht auch Schnee generell, könne so zum No-Go werden.

„Das Wichtigste an der Theorie finde ich, dass sie weggegangen ist von der Idee, dass Autisten einen Fehler haben, dass sie Mängelexemplare sind. Er ist hingegangen und hat gesagt: ‚Es geht nicht um einen Mangel. Da ist etwas, das Autisten zu viel haben und damit müssen wir umgehen.‘ Also definitiv mit einer Stärke und nicht mit einer Schwäche.“ 

Lorenz Wagner, Journalist, Autor eines Buches über Henry Markram und seine Autismus-Forschung. Quelle: BR.de

Übrigens, mehr Wissenwertes und Informatives zur Gehirnüberfunktion findet ihr auf Kamelopedia! 😀 😀 😀

So nennt sich unser bald erscheinender erster Podcast mit Tom Giesemann daher : GEHIRNÜBERFUNKTION 🙂 Die erste Folge wurde bereits aufgenommen. Wenn sie fertig geschnitten ist, geht sie online und wir geben Euch allen Bescheid! 

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